RÜCKBLICK

1920-1940: Die Ringbahn unter Strom oder "Nächster Halt Moskau"

von Gernot Schaulinski

Groß wurde Berlin erst nach dem Weltkrieg, und das an einem Freitag im Oktober 1920. Zwar wäre zuvor niemand auf die Idee gekommen von einem "Klein-Berlin" zu sprechen, aber nun verdoppelte sich per Gesetz die Einwohnerzahl über Nacht auf 3,8 Millionen und es entstand eine moderne Großstadtgemeinde. Die zuvor in einem Umkreis von etwa 20 Kilometern um Alt-Berlin liegenden Städte und Gemeinden kamen unter einheitliche Verwaltung. Gegen diese kommunalpolitische Reform hatte sich das bürgerliche Lager vehement gesträubt, fürchtete es doch, die im Roten Rathaus dominierenden Sozialisten könnten ihren Einfluss in einem Groß-Berlin weiter ausdehnen. Das Gegenteil war der Fall, denn zu der proletarischen Wählerschaft aus den innerstädtischen Mietskasernen trat nun die breite konservative Schicht aus den Vororten. Das "rote Berlin" wurde von jetzt an bürgerlich regiert.

In dieser Zeit erfuhr auch die Ringbahn große Veränderungen. Schon seit Jahren galt die Hauptstadt des deutschen Reiches als "Elektropolis". In modernsten Fabriken stellten rund 260.000 Beschäftigte Telegraphen- und Telephon-Anlagen her, produzierten strombetriebene Maschinen- und Fahrzeugmotoren. Berlin war Ende der 20er Jahre der weltgrößte Standort der Elektrotechnik. Dies hatte auch für die Ringbahn Folgen, denn nach den Plänen der Reichsbahn ging ihr auf der "Strecke ohne Ende" bald der Dampf aus. Statt der schnaufenden, rußenden und Funken sprühenden Lokomotiven sollten nun elektrisch summende Triebzüge ihre Kreise um die Metropole ziehen. Im Rahmen der "Großen Elektrifizierung" wurden die Gleise der Ringbahn sowie der Stadt- und Vorortbahnen auf Strombetrieb umgerüstet und über 1.200 neue Wagen angeschafft. Am 6. November 1928 fuhren erstmals elektrische Züge auf dem Südring, am 1. Februar des folgenden Jahres auch auf dem Nordring. Im April 1929 wurde die Spitzkehre zum Potsdamer Ringbahnhof unter Strom gesetzt, einen Monat später verschwanden die letzten Dampfpersonenzüge aus dem Ringbahndienst. Berlin besaß nun das modernste Nahverkehrsmittel der Welt, das 1930 den offiziellen Namen "S-Bahn" (für Schnellbahn) und sein markantes Logo mit dem weißen "S" im grünen Kreis erhielt.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten geriet die Ringbahn verstärkt in den Fokus der Stadtplaner um Albert Speer. Ein neues Berlin sollte nach den Ideen Hitlers entstehen, mit einer quer durch die Stadt geschlagenen Prachtstraße, riesigen Bahnhöfen und einem umgebauten Ring. Für die Bahnprojekte wurde 1937 eine Reichsbahnbaudirektion eingerichtet, die 1.500 Mitarbeiter beschäftigte. Alle Planungen liefen auf eine weitestgehend schienenfreie Innenstadt hinaus; für dieses Ziel sollten die Berliner Kopfbahnhöfe mit ihren Gleisanlagen abgerissen werden und der noch auszubauende Ring den gesamten Fernverkehr aufnehmen. An den Stationen Wedding und Papestraße (heute: Südkreuz) war der Neubau von zwei monumentalen Personenbahnhöfen geplant. Jahre später erinnerte sich Albert Speer nach seiner Haftentlassung aus dem Kriegsverbrechergefängnis Spandau: "Die vergleichsweise beste Lösung fanden wir beim Zentralbahnhof, dem südlichen Beginn von Hitlers Prachtstraße, der sich durch ein weitgehend sichtbares Stahlskelett, das mit Kupferplatten verkleidet und mit Glasflächen ausgefacht werden sollte, von den übrigen steinernen Ungetümen vorteilhaft abgehoben hätte. Er sah vier übereinanderliegende, mit Rolltreppen und Fahrstühlen verbundene Verkehrsebenen vor und sollte den New Yorker Grand Central Terminal übertreffen" (Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 1969). Von diesem „Südbahnhof“ mit seiner 400 Meter langen Hauptfassade wären in naher Zukunft die Züge einer neu projektierten Breitspurbahn abgefahren, bis weit ins besetzte Russland hinein – soweit der Plan. Ob die Durchsage auf dem Ring dann wohl gelautet hätte: "Nächster Halt Moskau"? Der Krieg beendete das Milliarden-Projekt; die Pläne zerstoben unter dem Bomben- und Granathagel der alliierten Streitkräfte.

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