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Einsteigen, zurückbleiben – Eine Fahrt mit der Berliner Ringbahn ist eine Reise entlang der Grenze zwischen Zentrum und Peripherie

von Martin Reischke

Im Takt des Gleisbetts surrt die S-Bahn über die Schienen durch die Berliner Nacht. Drinnen blinzeln verschlafene Augen aus verschlafenen Gesichtern ins grelle Wagenlicht. Bücher werden aufgeschlagen und wieder beiseite gelegt, hastig durchblätterte Zeitungen verschwinden in Rucksäcken und schmalen Aktentaschen. Köpfe lehnen an Fensterscheiben, Frisuren verrutschen, Gesichter mit offenen Mündern träumen sich durch die Fahrt.
Quietschend fährt der Zug in den S-Bahnhof ein, kommt mit einem Ruck zum Stehen und öffnet seine Türen. Kalte Morgenluft dringt in den Wagen, Leute drängen hinterher. Draußen ein Schild – "Ostkreuz". Ein alter, maroder Bahnhof in Friedrichshain, dahinter beginnt Lichtenberg. Über ausgetretene Stufen hasten die Menschen zu den Zügen Richtung Zentrum: Friedrichstraße, Hauptbahnhof, Regierungsviertel, ins neue Berlin der Glasbauten und Bundespolitik. In der Ferne blinkt die Spitze des Fernsehturms.
Wir aber bleiben sitzen. Stürzen uns nicht ins Getümmel, sondern bleiben am Rand. Die Ringbahn ist eine gefühlte Grenze. Sie trennt die Berliner Innenstadt von ihrer Peripherie. "S42 nach Ring" schnarrt die Stimme der Bahnsteigdurchsage. Ein Signal tönt, eine rote Lampe leuchtet, die Türen schließen sich. Dann geht es los: Eine Fahrt ohne Anfang und Ende, immer im Kreis, fast 40 Kilometer lang, durch Ost und West, Nord und Süd, durch 27 Bahnhöfe in sieben Bezirken.
Geduckt rollt die Bahn durch eine Schneise in den Osten, vorbei an Gründerzeithäusern, die ihr den leeren Rücken zukehren und lang gezogenen Neubauten, die schemenhaft im Halbdunkel des Morgengrauens auftauchen. Nur eins ist gut zu erkennen: Die Leuchtreklame der zahllosen Einkaufszentren, deren riesige Schriftzüge von den Konsumverheißungen des anbrechenden Tages künden. Auch die S-Bahn möchte da nicht zurückstehen – und wähnt sich schon als Zubringer der neuen Einkaufs-Center. "Zum Shoppen ohne Stoppen" steht auf den Werbebannern, die in den Wagen der Bahn plakatiert sind.
Der alte Mann mit den sorgfältig zurückgekämmten Haaren, der an der Frankfurter Allee zusteigt, hat andere Sorgen. Mit ruhiger Stimme erzählt er von der neuen Ausgabe der Obdachlosenzeitung Straßenfeger – und verkauft zwei Exemplare, die er aus den Tiefen seiner Ledertasche fischt. Auf dem Cover ein satt lachender Heinz Erhardt, darunter der Neuköllner Komiker Kurt Krömer. "Humor", sagt der alte Mann, "ist wenn man trotzdem lacht. Darum geht es in der aktuellen Nummer." Er sagt das ernst, beinahe feierlich. Und lacht dabei keineswegs. Dann hält der Zug, und der Mann steigt aus.
Kaffeeduft zieht durch den Wagen. Kalte Finger umklammern heiße Pappbecher, erwartungsvoll geschürzte Lippen saugen gierig daran. Die Konturen der Häuser, eben noch verschwommen und matt, werden deutlicher, die Sonne geht auf. Plötzlich ist es wieder stockfinster: Quietschend fährt der Zug in einen kurzen Tunnel ein und kommt erst am Gesundbrunnen wieder zum Stehen. Raus aus Ostberlin, rein in den Westen, nach Wedding, in den alten Arbeiterbezirk. Doch Arbeiterromantik sucht man hier vergebens: Aseptisch poliertes Bahnsteigparkett und mildblau schimmernde Digitalanzeigen warten auf Rollkoffer rollende Leistungsträger und beanzugte Spitzenkräfte, die mit forschem Schritt und wehenden Krawatten ihrem nächsten Geschäftstermin entgegen streben. Nur die Ringbahn holpert unbeholfen in die neue Zeit.

Dann verdrückt sich die Stadt. Geklinkerte Speicher tauchen auf, ein Heizkraftwerk fliegt vorüber, drei dürre Schornsteine, ein rußiger Kohleberg. Dazwischen matt glänzende Schienenstränge, Container, Kräne, ein paar Waggons. Menschen gibt es keine. Rechts das trübe Wasser des Kanals, links der Schlosspark Charlottenburg, kahle Bäume im Wintergrau. Langsam nähert sich die Autobahn. Taucht mit leisem Rauschen in der Ferne auf und kommt lärmend heran. Schmiegt sich für eine Weile an die Seite der Bahn und nimmt sie schließlich in die Zange. Rechts ein Automeer, das sich langsam vorwärts schiebt, links ein Automeer in die andere Richtung. Dazwischen die Bahn. Hoch oben neben der Straße thront das Internationale Congress Centrum. Ein angegrautes Ufo: Zu schwer um abzuheben, erzählt es gleichsam vom Traum der grenzenlosen Mobilität. Stur hockt es am Straßenrand und wacht mit strenger Miene über die Ströme der Stadt. Wolken ziehen vorüber. Autos fahren vorbei. Menschen werden von ihm aufgesogen und wieder ausgespuckt.
Doch die mobile Verheißung ist längst dem Stillstand gewichen. Meter für Meter schiebt sich das Automeer nach vorne, will vorwärts und kommt doch nicht vom Fleck. Allein die Bahn zuckelt weiter, tief hinein nach Westberlin, nach Charlottenburg. Schon der nächste Bahnhof atmet das Flair längst vergangener Tage: Die schmutzigen Fenster in den schwarzen Rahmen, verrußt und grau-weiß gesprenkelt vom Taubendreck, erinnern an die verlebte Patina des Bahnhof Zoo.
Leer ist es geworden. Die Bahn fährt in den Westen. Eine schlanke Frau mit grauem Haar hat ihren Rucksack vor sich auf den Oberschenkeln abgestellt. Sie holt zwei lange Nadeln hervor und fängt an zu stricken. An der Tür ein mittelalter Mann: Basecap, hellbraune Hose, den ausgewaschenen Anorak trägt er weit geöffnet. Ernste, dunkle Augen schauen ins Leere. Seine Hand hält die metallene Haltestange locker umfasst. Die Fahrt des Zuges schüttelt die Fahrgäste, und bei jeder Gleisschwelle zittert das Gesicht des Mannes ein wenig, wippt sein grauer Oberlippenbart auf und ab. Die strickende Frau, der gebeugte Mann, die Stille: Immer länger wird der Augenblick, immer spärlicher werden die Gesten; von der Sonne gewärmt und vom Summen des Zuges schläfrig gemacht sinkt der Betrachter in eine tiefe, glücksselige Melancholie.

Ein paar Minuten bleibt das wohl so. Draußen ist es endgültig hell geworden, und die Autobahn, die für einige Augenblicke verschwunden schien, hat die Verfolgung wieder aufgenommen. An den Häuserwänden ausgewaschene Werbung aus Zeiten, als die Postleitzahlen noch vierstellig waren und die Telefonnummer kaum länger; gegenüber Einfamilienhäuser. Ganz hinten ist ein schwarzer Bär auf rot-weißem Grund zu sehen: Der Turm des Rathauses Schöneberg, auf dem die Berliner Fahne weht, ist die letzte Reminiszenz an Westberliner Frontstadtzeiten.
Abrupt ist der Wechsel in die Gegenwart. Vorbei die Ruhe und Melancholie, als die Bahn in den riesigen Glaskasten am neuen Südkreuz einfährt. "Ringbahn einsteigen, zur Ringbahn zurückbleiben", brüllt es aus den Lautsprechern. Reisende wuchten ihre Koffer ins Wageninnere und suchen nervös nach Stadtplänen. Rucksäcke schieben sich durchs Gedränge und plumpsen auf freie Plätze. Dann gibt die Bahnhofshalle den Blick endlich frei auf einen Ort, der Wachstum verspricht. Ein Gewerbegebiet entsteht. Zum Shoppen ohne Stoppen.
Doch die Gegenwart kann sich nicht behaupten. Schon wird sie wieder von der Vergangenheit verdrängt. Das Halbrund des Flughafens Tempelhof rückt wuchtig ins Bild. Einige Flugzeuge stehen verloren auf dem riesigen Rollfeld. Direkt daneben, eingequetscht zwischen Rollfeld und Ringbahn, eine Kleingartenkolonie. Kleine Parzellen mit winzigen Lauben, graue Bäume und graue Beete, mittendrin eine Deutschlandfahne.
In Neukölln wird anders geflaggt. Einen Kompass braucht hier niemand: Dicht an dicht hängen hier die Satelliten-Schüsseln an den Hauswänden und zeigen gen Süden. Handys klingeln, Kinder schreien, ein Junge rülpst. "Pups mal!" fordert ein Graffito an einer Hauswand.

Berlin wird munter. Eine junge Frau hat sich einen Ohrhörer eingesteckt und telefoniert freihändig. Erst scheint sie eine Weile ihrem unsichtbaren Gegenüber zuzuhören, dann runzelt sie die Stirn und setzt zum verbalen Gegenschlag an. Mit bitterer Miene weist sie zurecht, fordert Entschuldigungen, rügt und tadelt. Dabei schaut sie stur geradeaus, und es ist, als würde sie dem ganzen Wagen eine Standpauke halten. Die Fahrgäste blicken angestrengt ins Leere und lauschen doch mit Interesse dem Fortgang des Gesprächs. Manche verdrehen die Augen, werfen sich viel sagende Blicke zu, andere unterdrücken ein Lachen. Die junge Frau stört das nicht. Ohne Scham schreit sie weiter in ihr Telefon – als säße sie nicht in der vollbesetzten Ringbahn, sondern zu Hause auf ihrer Wohnzimmercouch.
Die Frau redet, die Bahn quietscht, die Zeit fliegt dahin. Dann ein Blick aus dem Fenster: Unter uns die Spree – schon wieder am Ostkreuz –, und jetzt hat sich auch der Fernsehturm vom Morgendunst befreit. Groß und schlank steht er da und blinkt uns zu. Die junge Frau steigt aus, Ende der Vorstellung. Auch wir spüren die Versuchung: Raus aus der Ringbahn, rein in die Stadt. Aber das Fahren macht träge und schläfert ein, und schon schließen sich die Türen. Also bleiben wir einfach sitzen und fahren weiter. Um die Stadt und durch die Stadt. Noch eine Runde Berlin.

Erstveröffentlichung am 09.02.2007 in der Wochenzeitung "freitag", vom Autor zur Nutzung auf dieser Website freigegeben.
Martin Reischke: www.schoenundgut.net

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