WESTHAFEN
Berlin aus dem Kahn
von Dagmar Thorau und Ralitsa Domuschieva
Als der Westhafen 1923 eröffnet wurde, staunte der Reporter der Deutschen Tageszeitung nicht schlecht: „Macht man sich von der Illusion frei, in Berlin zu sein, so ist der vorherrschende Eindruck der, dass man sich in einem Teil des Hafenbetriebs einer Seestadt befindet!“ Kein Element eines modernen Hafens fehlte: Zwei Becken von 448 und 635 m Länge, die bald durch ein drittes ergänzt wurden, riesige Lagerhallen und Freiladeflächen für zehntausende Tonnen an Gütern, auf der Halbinsel in der Hafenmitte das größte Speicherhaus Europas, Wirtschaftsgebäude, Werkstätten, Kräne und elektrische Ladevorrichtungen. Noch heute ist das über 40 Hektar große Gelände rund um das imposante Verwaltungsgebäude der Betreibergesellschaft BEHALA (Berliner Hafen- und Lagerhaus AG) mit seinem markanten Turm der zweitgrößte Binnenhafen Deutschlands.
Es hat freilich gedauert, bis die Stadt den Hafen baute, der ihrer Bedeutung als Industriestandort und ihrer Tradition als Wasserstadt entsprach. Die Berliner Kaufmannschaft hatte schon 1890 Hafenanlagen gefordert, die den Ansprüchen der boomenden Metropole gerecht würden. Erst sperrte sich die Reichsbahn, dann verzögerte der Erste Weltkrieg die Umsetzung der Planungen, und nach 1918 bremste die ökonomische Misere den Baubeginn, bis der Magistrat angesichts der finanziellen Not beschloss, die Häfen der Hauptstadt an eine Aktiengesellschaft zu verpachten. Als Lichtblick „inmitten der Trostlosigkeit unserer wirtschaftlichen und politischen Lage“ sah denn auch der Berliner Börsen-Courier die bunt bewimpelten Schiffe und die Festversammlung der Honoratioren zur Eröffnung 1923.
Die Berliner nahmen es mit Gelassenheit. Schließlich weiß hier jedes Schulkind, dass die halbe Stadt „aus dem Kahn gebaut“ worden ist und ohne die Binnengewässer so wenig Berlin wäre wie ohne seine Gründerzeithäuser. Nachdem man der Natur schon im 17. und 18. Jahrhundert mit Stauwerken, Schleusen und Kanälen nachgeholfen hatte, um das Städtchen an der Spree mit Waren zu versorgen, stellten die zahlreichen Wasserwege für das Werden der Metropole einen entscheidenden Faktor dar. Während der Gründerjahre war der schier unersättliche Bedarf an Steinen, Kies, Holz und Kohle nur durch die unermüdlich pendelnden Lastkähne zu befriedigen.
Als die Stadt Jahrzehnte später ihren großen Hafen bekam, musste er zügig erweitert werden, denn nicht nur die Binnenschifffahrt boomte, auch Nutzer aus Übersee fanden sich ein: In einer Lagerhalle ließ Ford sein Modell T („Tin Lizzy“, die ‚Blechliesel’) aus Einzelteilen montieren, um Importzölle zu umgehen.
Im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bomben einen Großteil des Hafens, der sich nach dem Wiederaufbau zum Lagerplatz wandelte. Auf Befehl der westlichen Alliierten wurden hier Lebensmittelreserven gehortet, mit denen man die Mauerstadt im Ernstfall einer Abriegelung durch die Sowjets hätte versorgen können. Ironie der Geschichte: Nach dem Fall der Mauer ging diese „Senatsreserve“ 1990 als humanitäre Hilfe an die Sowjetunion.
Heute lebt der größte Hafen der Stadt hauptsächlich vom Umschlag und der Lagerung von Baustoffen und Schrott. Viele Hallen werden als Werkstätten und Verkaufsräume von Grossisten genutzt. Neben dem Handel hat sich die Kultur eingemietet: Seit 1997 ist im denkmalgeschützten Getreidespeicher das Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek untergebracht – mit bester Verkehrsanbindung, wie ein Mitarbeiter rühmt: „Hier fährt die Ringbahn, die U-Bahn hält, wir haben die Stadtautobahn ... und wer will, kann auch mit dem Schiff kommen!“
Das bislang unvollendete Verkehrsprojekt "Deutsche Einheit 17" soll den Westhafen künftig auch den ganz großen Containerschiffen öffnen. Planer und Umweltschützer ringen noch miteinander, denn der damit verbundene Ausbau der Wasserstraßen ist so umstritten wie die Wachstumsprognosen für die europäische Binnenschifffahrt. Da mag mancher Schiffer in der kleinen Hafenkirche um höheren Beistand bitten, damit es auch weiterhin heißen kann: „Allzeit gute Fahrt in Gottes Namen!“