INNSBRUCKER PLATZ

Sündenfälle und Sternstunden West-Berlins

von Dagmar Thorau

Wer an diesem unwirtlichen Ort lieber durchfahren als aussteigen will, wird der Konzeption des Innsbrucker Platzes bestens gerecht: Viele Millionen Mark sind hier von der West-Berliner Bauwirtschaft vergraben worden, um im Sinne der autogerechten Stadt einen gewaltigen Verkehrsknoten zu schlingen. Zwischen 1971 und 1979 wurde die Stadtautobahn auf der größten Berliner Baustelle des Jahrzehnts mit ungeheurem Aufwand unter dem Platz hindurchgeführt, ein Tunnelmund öffnet sich brausend neben dem S-Bahnhof, der andere führt jenseits der Ringbahn zum Schöneberger Kreuz. Über dem Tunnel zog man ein Geschoss ein, durch dessen Gänge die Fußgänger unterirdisch verteilt werden, zum U-Bahnhof, zu Bushaltestellen und S-Bahn. In der Tiefe war noch mehr Verkehr geplant: Unter dem Autobahntunnel ruht ein Bahnhofsrohbau der nie verwirklichten U-Bahnlinie 10, die im Westteil Berlins als Alternative zur ungeliebten, von der DDR betriebenen S-Bahn projektiert war. Den Platz oben beherrschen die unablässig rollenden Autokolonnen.

Das Aussteigen lohnt aber nicht nur für unerschütterliche Verkehrsforscher: Schon vom Bahnsteig aus sieht man mit dem RIAS-Funkhaus und dem Turm des Schöneberger Rathauses zwei der markantesten Ikonen des alten West-Berlin – die politische Schaltzentrale der Frontstadt und deren Stimme. Nicht nur in Berlin kannte jeder die berühmte Ansage: „Hier ist RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt." Die innovative Programmgestaltung wurde zum Vorbild für die westdeutsche Rundfunkszene und versorgte die Menschen in der „Zone" mit Nachrichten aus der Welt hinter dem eisernen Vorhang. Freier, kritischer Journalismus als beste Werbung für die westliche Demokratie – die Idee des Rundfunks im amerikanischen Sektor ging auf, wie nicht zuletzt die Agitation aus dem Osten zeigte: 60 Störsender wurden in Stellung gebracht, Spitzel auf die Redakteure angesetzt, Prozesse nach stalinistischem Muster verurteilten DDR-Bürger, die Kontakt zu dem als „Agentensumpf der Kriegshetzer" diffamierten Sender gesucht hatten. Dennoch: der heimlich gehörte RIAS blieb für die Mitteldeutschen eine Brücke zum Westen und verband das geteilte Land im Kalten Krieg.

Gleich um die Ecke vom Funkhaus lag das politische Zentrum der Inselstadt, das Rathaus Schöneberg. Fast ein halbes Jahrhundert lang diente der Rathausplatz als Ort für Großkundgebungen, ob im Mai 1949 nach dem Ende der Blockade oder zum Gedenken an die Opfer des 17. Juni 1953, 1961 bei den wütenden Protesten gegen den Mauerbau genauso wie 1989 nach der Öffnung der Grenze. 1953 erwiesen Hunderttausende dem im Rathaus aufgebahrten Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter dankbar die letzte Ehre, hatte er doch den zögerlichen Alliierten 1948 die rettende Luftbrücke abgezwungen: „Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft, nicht preisgeben könnt!" Den Erfolg der Politik Reuters konnten die auf dem Rathausplatz dicht gedrängten Westberliner 1963 bejubeln, als Kennedy ihnen zurief: „Ich bin ein Berliner!" Der RIAS übertrug live, freilich gingen nicht nur Sternstunden über den Äther. Als sich 1967 anläßlich des Schah-Besuchs neben winklustigen Senioren auch protestierende Studenten vor dem Rathaus sammelten, prügelten als Schah-Anhänger („Jubelperser") getarnte persische Geheimdienstler mit Totschlägern auf die Demonstranten ein, ohne dass die Polizei eingriff. Die Live-Berichte im RIAS heizten die Stimmung zusätzlich an, die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei führten am Abend zum Tod Benno Ohnesorgs – ein Fanal für die 68er-Revolte.


Ganz große Geschichte machte der großen Geschichte am Innsbrucker Platz ein Ende: Nach der Wiedervereinigung und dem Umzug des Senats ins Rote Rathaus 1991 wurde es still am John-F.-Kennedy-Platz; zum Jahresende 1993 stellte der RIAS seinen Sendebetrieb ein. Immer noch aber läutet die Berliner Freiheitsglocke, mittags vom Schöneberger Rathausturm und jeden Sonntag im Radio, gefolgt von einem Freiheitsgelöbnis – wie früher zu Mauerzeiten.

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