SCHÖNEBERG

Das Fünfte Kreuz

von Mathis Sommer

Am Kreuzungsbahnhof Schöneberg überlagern sich heute nicht nur die S-Bahntrassen der Ring- und der Wannseebahn. Die Raum greifenden Gleisanlagen zeichneten früh die Vielschichtigkeit und Heterogenität des städtischen Umfeldes vor und ließen zahlreiche Nischen entstehen.

Als Vorläuferin der Wannseebahn und erste Eisenbahnstrecke in Preußen verband die so genannte "Stammbahn“ bereits ab 1838 den Potsdamer Bahnhof außerhalb der Zollmauer Berlins mit der Residenzstadt Potsdam. Konzipiert für den Vorortverkehr, schloss dann die weitestgehend parallel verlaufende Wannseebahn ab 1877 die vornehmen Wohnviertel im Südwesten der Stadt an das pulsierende Quartier rund um den Potsdamer Platz an, ab 1891 war dies die erste unabhängige Vorortstrecke mit eigenem Tarif im Deutschen Reich. Zu diesem Zeitpunkt lag der Bahnhof mit dem Namen Schöneberg noch im Bereich der heutigen Julius-Leber-Brücke, als Teil der Wannseebahn und lediglich über die Südringspitzkehre an die Ringbahn angebunden. (Als es noch keinen Vollringverkehr gab, schwenkten die Züge auf die Strecke der Stammbahn ein und endeten am eigens dafür gebauten Potsdamer Ringbahnhof, in direkter Nähe des Potsdamer Bahnhofes und der Anlagen des Gleisdreieckes.)

Zwar existieren die Gleise der Südringspitzkehre nicht mehr, doch ist ihre frühere Lage noch deutlich im Stadtgrundriss und an der Unwirtlichkeit der Torgauer Straße ablesbar. Die Insellagen des Geländes um den weithin sichtbaren Gasometer und des östlich gelegenen Wohngebietes dichter Mietskasernen um den sehenswerten Gustav-Müller-Platz zeugen von dieser Entwicklung. Die von Gleisen (östlich befand sich ein preußischer Militärbahnhof) um- und daher unvorteilhaft erschlossene "Rote Insel“ galt lange als linkes Arbeiterviertel und leistete im Barrikadenkampf zunächst dem Kaiser, später den Nationalsozialisten und zuletzt dem Autobahnbau erbittert Widerstand. Auch Personen des öffentlichen Lebens brachte das geschichtsträchtige Quartier hervor: Marlene Dietrich wurde in der Leberstraße 65 geboren, und Hildegard Knef wohnte hier bei ihren Großeltern.

Der 78 Meter hohe Gasbehälter der Berliner Gasversorgungsanstalt GASAG wurde ab 1908 nach Plänen des Architekten Alfred Messel errichtet, bekannt für das im Krieg zerstörte Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz sowie das nach seinem Tod vollendete Pergamonmuseum. Das ungenutzte Skelett steht seit 1994 unter Denkmalschutz und soll in Zukunft als Landmarke dem ambitionierten Immobilienprojekt des Europäischen Energieforums EUREF dienen. Mit der Bürgerinitiative Gasometer stemmt sich die Rote Insel abermals gegen das Establishment. Messel starb 1909 und liegt nur unweit seines Bauwerkes auf dem Friedhof der Matthäus-Gemeinde begraben. Auf dem durch Speers "Germania“-Pläne einst bedrohten Friedhof ruhen in aufwändigen Mausoleen unter anderem die Gebrüder Grimm, Rudolph Virchow und der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. Im Jahr 2000 übernahm der Verein Denk Mal PositHIV die Patenschaft für eines der vom Verfall bedrohten Gräber und richtete damit eine zentrale Gedenk- und Begräbnisstätte für an Aids verstorbene Menschen jedweder Religion ein. Seit 2005 liegt auch Ovo Maltine (geboren 1962 als Christoph Josten), Schöneberger Original und aus Filmen Rosa von Praunheims bekannte Aids-Aktivistin, auf dem ehrwürdigen Friedhof zwischen Großgörschen- und Monumentenstraße.

An der Stelle des heutigen Kreuzungsbahnhofes Schöneberg – der fünfte nach West-, Ost-, Nord- (Gesundbrunnen) und Südkreuz – befand sich bis zur Elektrifizierung der S-Bahn 1933 die Ringbahnstation Ebersstraße; ihr altes Empfangsgebäude erreicht man noch über den Nebenausgang des oberen Bahnsteiges. Die Ebersstraße ist eine gut erhaltene gründerzeitliche Wohnstraße, wie sie im autogerecht wieder aufgebauten Westen nicht selbstverständlich sind. Der alte Bahnhof reiht sich nahtlos in dieses Ensemble ein und entschädigt für den unglücklichen Hauptzugang an der stark befahrenen Bundesstraße 1; es gibt eben immer mehrere Seiten.

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