STORKOWER STRASSE

Anfang und Ende des Langen Jammers

von Mathis Sommer

Viel länger war die Fußgängerbrücke, und nicht so lang ist's her. Die Geschichte beginnt 1877: Südlich des heute wieder abseits liegenden S-Bahnhofes entstand am gerade vollendeten Ring der große Central Vieh- und Schlachthof als Stadt vor der Stadt. Angesichts des Elends in überfüllten Gründerzeitquartieren hatte der Arzt und Politiker Rudolf Virchow diese Maßnahme schon Jahre zuvor im Rahmen wachsender kommunaler Aufgaben angeregt, um die unhygienische Metzelei in den Hinterhöfen zu beenden.

Stadt und benötigte Fleischmenge wuchsen unaufhaltsam und holten den Schlachthof bald ein. 1906 erstreckte sich das Gelände von der Landsberger Allee bis zur Eldenaer Straße und verhinderte eine weitere Ausdehnung der Mietskasernen Friedrichshains über die Ringbahn hinaus. Zu dieser Zeit wurden hier fast 15.000 Rinder, Schweine, Kälber und Schafe an einem Tag geschlachtet, unweigerlich verbunden mit dem Geruch von Blut, dem Kreischen der Maschinen und dem Brüllen der Tiere im Todeskampf. Die Industrialisierung hatte das Handwerk eingenommen, im Akkord wurde über den eigenen Güterbahnhof Vieh angeliefert, gehandelt, zerlegt, verarbeitet und Fleisch für 2 Millionen Berliner produziert. Blut, Horn, Häute und andere Nebenerzeugnisse fanden weitere Verwendung, unter anderem in Impfstoffen und als Stiefel für das preußische Militär.

Neben dem Warentransport stieg auch die Bedeutung der Bahn für den Personenverkehr. Die Station Zentralviehhof erreichte man ab 1881 durch eine hölzerne Brücke über den Verladebahnhof, musste jedoch dafür weite Teile des lebensgefährlichen Schlachthofgeländes durchqueren. Erst 1937 wurde der lang gehegte Plan in die Tat umgesetzt, die südlichen Wohnviertel mit einer Brücke über das ganze Gelände hinweg an die S-Bahn anzubinden. 420 Meter lang, 4 Meter breit und 6 Meter über den Hallen und Wegen der Tötungsmaschinerie schwebend, alle Ausblicke verwehrend, sind für diesen unwirtlichen Gang die Bezeichnungen "Langer Jammer" oder auch "Rue de Galopp" überliefert.

Als VEB Fleischkombinat Berlin wurde während der DDR-Jahre weiter auf dem kriegszerstörten Gelände geschlachtet. Im Brachland jenseits der Bahn entstand das Wohngebiet Fennpfuhl, die erste ostdeutsche Großsiedlung in Plattenbauweise (heute teilweise unter Denkmalschutz); der rekonstruierte Lange Jammer wurde dorthin verlängert. Er war mit nunmehr 505 Metern die längste Fußgängerbrücke Europas und ein einzigartiger Ort der Großstadt, gewürdigt zum Beispiel im Vorspann der Krimiserie Polizeiruf 110.

Nach der Wende endete die staatliche Fleischproduktion, und im Fennpfuhl stieg die Arbeitslosigkeit; zahlreiche Scheiben der Brücke waren zerstört oder besprüht, und es roch nach Urin. Dieses Bild war so am Immobilienmarkt nicht zu platzieren, und der Senat träumte derweil von Olympia 2000 und einem lebendigen Stadtquartier: Wohnen und vor allem Arbeiten in und um die denkmalwürdigen Backstein- und Stahlruinen für bis zu 10.000 Menschen, jenseits des Schlachtens. Im zwischenzeitlich denkmalgeschützten Langen Jammer vereinte sich die gesamte Entwicklung des Geländes, seine ambivalente Bedeutung für Stadt und Bewohner, sein Anachronismus im räumlichen Gefüge. Trotzdem musste der größte Teil ab 2002 einem "Fachmarktzentrum" weichen, wie es die Stadtentwickler nennen – der Brückenstummel endet heute vor einem Discounter.

Zwar hatte die Überführung ihre originäre Funktion mit der Öffnung des Geländes verloren und war sanierungsbedürftig, doch wäre der Abriss leicht zu vermeiden gewesen. Alle Grundstücke befanden sich zeitweise in städtischer Hand, und es mangelt bis heute nicht an freien Entwicklungsflächen. Der Lange Jammer hätte als Denkmal der Industriegeschichte die Erinnerung an das Schlachthofgeschehen wach halten können. Stattdessen ist er nun eine Fußgängerbrücke in schlechtem Zustand und sicherlich nicht das einzige Beispiel für die mancherorts destruktive Ausdehnung des Einzelhandels entlang der Ringbahn.

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